Reflexionen
Die Heilige Stille
Alles kann man missverstehen, auch die Verehrung der Stille, die allen tiefgehenden spirituellen Praktiken eigen ist. Ein übliches solches Missverständnis ist: Je weniger Geräusche du machst, umso stiller und folglich spiritueller bist du. Dementsprechend sind laute Menschen unspirituell.
So sehr ich die Abwesenheit von Lärm schätze – so einfach ist es nun auch wieder nicht. Das Verzichten auf Lautäußerungen in einem Retreat kann eine sehr effektive spirituelle Praxis sein, aber das Ergebnis ist dabei nicht immer ein echtes Versinken in Stille. Im Normalfall ist diese Stille beim meditativen Sitzen erst mal eine angestrengte, durch Disziplin errungene Stille, nicht eine des Stillwerdens, sondern des Stillhaltens.
Die ersehnte echte Stille tritt erst dann ein, wenn die Geräusche, die auftreten, nicht mehr als störend empfunden werden, weil das Bewusstsein mit dem Hintergrund verschmolzen ist. Wem das vergönnt ist, der hat dann tatsächlich das Gefühl, einen Heiligen Raum zu betreten. Es ist eine Ekstase, ein "Außer-sich-Sein", obwohl ich dabei ja eigentlich ganz bei mir bin, aber eben nicht mehr im Alltagsego. Es ist überwältigend wonnevoll, geradezu berauschend, obwohl die Wahrnehmung dabei klar ist, nicht wie in einem Rausch. Die Geräuschwahrnehmung ist dabei sehr fein, Geräusche sind willkommen. Diese Stille flieht nicht vor Geräuschen, sie nimmt sie in sich auf ohne Widerstand.
Solch eine Einkehr ist etwas sehr Sinnliches, ein Hören, Riechen, Sehen, Spüren! Aber diese Sinneseindrücke steuern mich nicht, ich empfange sie ohne Gier. Vielleicht war das Gesteuert-Werden durch Sinneseindrücke der Grund, warum so viele alte Philosophien die Sinnlichkeit zum Gegner der Spiritualität erklärten: Weil der Duft von leckerem Essen, der Klang einer süßen oder auch bedrohlichen Stimme oder ein sexueller Reiz mich so betören können, dass ich dann nicht mehr Herr meiner selbst bin. Ja, das kann passieren. Das Einsinken in die Heilige Stille, das ich meine und das mich so sehr entzückt, ist aber etwas ganz und gar nicht Sinnenfeindliches und auch überhaupt nicht Fremdgesteuertes. Es kann durch die zeitweilige Abwesenheit von Geräuschen ausgelöst werden, wie man sie im Flotationstank erlebt oder auch mal nachts in der Natur, weitab vom menschlichen Treiben. Wenn dann aber das Einsinken passiert, ist das pure Wonne: Dann empfängt man die Geräusche und nimmt sie in sich auf, so wie man sich einen exquisiten Leckerbissen auf der Zunge zergehen lässt.
Wolf Schneider, Jg. 52. Autor, Redakteur, Moderator. Studium der Naturwiss. und Philosophie (1971-75) in München. 1975-77 in Asien. Seit 1985 Hrsg. der Zeitschrift connection. Seit 2008 Theaterspiel & Kabarett. Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.connection.de.